Jürg Roth
Es ist der 7. Juli 2025 kurz vor Mitternacht. Mit Olga, Oksana, Sasha starten wir zur langen Reise zum kleinen 3000 Seelendorf Nizy südlich von Sumy. Die Organisation «YOUTH OF NIZY» bat um Schulmaterial und Hygiene Artikel für die vielen Inlandvertriebenen aus der nahen Kampfzone. Ein Grossteil der Hilfsgüter wurde bereits von der Post gratis nach Nizy geliefert.

Freude bei den Jugendlichen nach der Verteilung der Hilfsgüter
Olga hat viele gute Freunde aus ihrer Zeit bei der Armee, die wir nach einem ungeschriebenen Gesetz in Kriegszeiten zur Kontaktpflege nach Möglichkeit besuchen. In ungewissen und unsicheren Zeiten weiss niemand, wann und wo er auf die Hilfe ehemaliger Kameraden angewiesen ist. Unser erster kurzer Halt ist in der Stadt Ochtyrka, ganz im Süden der Region Sumy welche vom 25. Februar bis 24. März 2022 von russischen Truppen besetzt war. Wir treffen Sergei, der in der gleichen Brigade mit Olga diente. Alle Menschen, die uns begegnen danken mir und der ULS überschwänglich für die Hilfe an die Bedürftigen. Ich werde beschenkt mit einer zerstörten Drohne und einem von Kinderhand verzierten leeren Behälter für kleinere Raketen. Speziell nachhaltige Souvenirs!
Um ca. 12:30 Uhr treffen wir in Nizy ein. Das ganze Dorf scheint auf den Beinen zu sein. Unter aktiver Mithilfe der lokalen Bevölkerung beginnen wir mit dem Abladen unserer Hilfsgüter. Gleich zu Beginn gibt es Bombenalarm, was aber die Menschen nicht zu stören scheint.
Die Verteilung beginnt etwas chaotisch. Es fehlt nicht am guten Willen sondern allein an Erfahrung. Auch die Platzverhältnisse sind eng und erschweren ein geordnetes Verteilen. Unser Team setzt sich während über 3 ½ Stunden mit aller Kraft dafür ein, dass am Schluss alle ihren Anteil bekommen. Auch in Nizy erfahre ich Dankbarkeit und gute Wünsche an die Schweiz und die ULS, die ich gerne weiterleite. Die Windeln und Hygieneartikel für die behinderten Menschen werden erst an den folgenden Tagen verteilt.
Nach 16:00 Uhr sind wir alle total erschöpft und froh, dass die Verteilung doch noch zu einem befriedigenden Ende gebracht werden konnte. Nach einer kurzen Erfrischungspause bringt uns ein Taxi zu einem öffentlichen Strandplatz am Fluss «Psel», wo uns Lika und Sasha mit Gemahlin Tatiana zu einem Grillabend empfangen. Alex, ein Armeefreund von Olga, ist ebenfalls dabei. Seine Brigade ist in der Umgebung von Sumy stationiert. Eine wohltuende Ruhe inmitten der üppigen Vegetation, das grillierte Fleisch und die verschiedenen Salate tragen zum Gelingen dieses Abends bei. Über Krieg und die russische Bedrohung wird nicht gesprochen, alle wollen für kurze Zeit vergessen und einfach ausspannen im Kreise von lieben Mitmenschen.
Bereits um 22:00 Uhr verabschiedet sich Lika. Sie muss bereits am kommenden Tag zu einer Einheit in der Umgebung von Tschernihiw aufbrechen. Es ist ein äusserst emotionaler Abschied. Die Menschen spüren die Gefahr und niemand weiss wann und wie dieser Krieg enden wird.
Am nächsten Tag treten wir bei drückender Hitze ohne Klimaanlage die lange Rückreise an. Bevor wir die Region Sumy verlassen, kommen wir in der Nähe von Klymentove an einer zerstörten Brücke vorbei. Dieser Ort wurde nie von den Russen besetzt, aber die dortige Bevölkerung musste am Anfang des Krieges unzählige Bombardierungen erdulden. Das halbe Dorf wurde entweder beschädigt oder ganz zerstört. Mit EU-Hilfe konnten praktisch alle Schäden behoben werden. Um den Vormarsch der russischen Truppen aufzuhalten, wurde die Brücke von der ukrainischen Armee gesprengt. Wenige Kilometer entfernt liegt die kleine Stadt Trostianets, die zu Beginn des Krieges während rund eines Monats von den Russen besetzt wurde. Die Folgen sind bis heute sicht- und spürbar. Auf einem speziell hergerichteten Platz werden die vielen gefallenen Soldaten als Helden geehrt; diese schreckliche Zeit soll für die kommenden Generationen ein Mahnmal bleiben.

Die Brücke bei Klementove (zwischen Trostianets und Ochtyrka, südl. von Sumy), auf dem Weg nach Nizy wurde am 25. Februar von ukranischen Truppen gesprengt, um das weitere Vordringen der Russen zu verhindern, nachdem Trostianets am 24.02.22 besetzt worden war.
Die weitere Rückreise bis Schytomer verläuft problemlos. Kurz danach haben russische Raketen eingeschlagen. Hoch über uns hören wir ohrenbetäubende ballistische Raketen auf weiter westlich liegende Ziele zufliegen. Eine ziemlich ungemütliche Angelegenheit. Dankbar und wohlbehalten sind wir zu fortgeschrittener Stunde in Vinnitsa angekommen.